Marina Yee: Nachruf auf die „sanfte Revolutionärin“ der Antwerp Six

Es gibt Designerinnen, deren Werk so leise spricht, dass man es erst bemerkt, wenn die Mode bereits lange davor verändert hat. Marina Yee gehörte zu ihnen.

Keine Effekthascherei, keine Hochglanzparaden, sondern eine Hand, die tastete, schichtete, reparierte – und damit das Bild von Mode als immer schnellerem Neuheitenkarussell grundlegend verschob. Ihr Tod am 1. November 2025, mit 67 Jahren, reißt eine jener stillen Lücken, die erst im Echo groß werden: in Köpfen, die anfangen, an Kleidungsstücken die Spuren der Zeit zu schätzen; in der Geschichte der belgischen Mode, deren sanfteste Revolutionärin sie war.

Sie liebte Asymmetrien und dort, wo sich die Materialien begegnen, die Nähte. Sie zeigte diese offen, ließ hinter die Fassade blicken und erzählte von ihren eigenen Modegeschichten. Aus abgelegten Blazern, abgelegten Mänteln und Hosen spann sie neue Kleidungsbiografien und war ihrer Zeit damit oft weit voraus.

Das ist die Poetik der zweiten Chance – jener „second life“-Gedanke, den die Industrie Jahre später als „Upcycling“ entdeckte, weil die Konsument:innen in einer Welt des Überkonsums danach verlangen. Bei Marina Yee war er nie nur eine Geste. Dass die Modewelt sie heute gern als „Pionierin der Nachhaltigkeit“ vereinnahmt, ist richtig, aber ungenau. Sie war nicht früh dran – sie war einfach sie selbst. Der Rest zog später nach.

Man kann von Marina Yee lernen, dass Design eine moralische Entscheidung ist – nicht als Regelwerk, sondern als Verhältnis zur Welt. Nichts wegwerfen, ohne ihm eine letzte Frage zu stellen. Nichts neu machen, ohne das Alte zu konsultieren. Die ethische Dimension ihrer Praxis war nie plakativ; sie war spürbar. Ihre Aktualität liegt heute vor allem darin, dass ihre Haltung gerade jetzt wieder als Aufforderung wirkt: Schönheit entsteht nicht, wenn etwas perfekt ist, sondern wenn es wahr ist.

Oder wie Bliss Foster sie nannte: The last „anti-fashion designer“.

Ihr Name gehört in die kleine Liste, die Modehistorikerinnen und -historiker reflexhaft aufsagen: Ann Demeulemeester, Dries Van Noten, Dirk Bikkembergs, Dirk Van Saene, Walter Van Beirendonck – und eben Marina Yee. Die Antwerp Six, das waren sechs junge Absolvent:innen der mittlerweile als Kaderschmiede bekannten Königlichen Akademie in Antwerpen, die Mitte der Achtziger mit einem gemieteten Transporter nach London fuhren und die Welt veränderten. Ein Roadtrip, der das gefühlte Hinterland der Modebranche in das Licht der Avantgarde bringen sollte.

Während die anderen ihren Namen zu Marken aufbliesen, hielt Yee Distanz. Sie suchte lange die Nebenwege der Branche: eigene kleine Linien, Kollaborationen, Lehrtätigkeiten. Diese biografische Chronologie erzählt von einer Künstlerin, die dem System nicht widersteht, aber dessen Tempo nicht mitgeht. Genauso wie ihre Kollektionen, die wirkten, als kämen sie aus einer Werkstatt, in der die Zeit nicht linear verläuft.

Ihre Werke mögen weniger instagrammable sein als die der anderen, aber sie haben eine andere Kraft. Sie entwarf für das Unsichtbare – für das, was zwischen Haut und Stoff stattfindet. Für die Momente, in denen man vergisst, dass man Mode trägt, weil sie Teil von einem selbst wird. Für die Intimität, nicht für die Aufmerksamkeit.

In einer Branche, die sich durch Sichtbarkeit definiert, entwarf sie das Unspektakuläre als Form der Freiheit. Der Mantel durfte schlicht sein, wenn seine Schlichtheit ehrlich war; ein Kleid durfte unfertig wirken, wenn es damit seine Herkunft verriet. Yee entzog sich dem Zwang zur Pose und schuf so etwas Seltenes: Mode, die nicht interpretiert werden will, sondern verstanden werden will.

Am Ende steht ein Datum, das traurig macht. 1. November 2025. Aber dazwischen: eine Praxis, die die Lebensläufe von Kleidern und Menschen verlängert hat.

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