Julian Schnabel: Größer als der eigene Mythos

In seiner gleichnamigen Monographie gewährt der amerikanische Maler und Regisseur Julian Schnabel einen umfassenden Einblick in sein interdisziplinäres Werk

„Am Anfang jedes meiner Kunstwerke steht immer eine Frage. Wenn man schon vorher weiß, was am Ende dabei rauskommt und sich alle Fragen schon im Vorfeld beantwortet hat, hat das in meinen Augen nichts mehr mit Kunst zu tun“,

beschreibt Julian Schnabel seinen schöpferischen Impetus. Seit Anfang der 1980er Jahre zählt der New Yorker zu den wichtigsten Vertretern des Neoexpressionismus, der das Publikum mit seinen oftmals großformatigen Bildern und Installationen, schroffen Skulpturen und eindringlichen Filmen immer wieder vor neue Rätsel stellt.

Julian Schnabel in den 1970er Jahren in New York
Julian Schnabel in seinem Studio in der 20th Street, New York 1979, mit den Werken „Circumnavigating the Sea of Shit“ und „Hospital Patio-Baboon in Summer“ © Julian Schnabel

Ein selbsterklärter Storyteller, dessen chiffrierte Geschichten sich selten auf den ersten Blick, sondern immer erst in der direkten Auseinandersetzung eröffnen. Kontext is key in Schnabels akribisch konstruierten Spannungsfeldern zwischen Fragment und Einheit, zwischen Material, Motiv, Farbe, Struktur und dem räumlichen Effekt, den die monumentalsten seiner Schöpfungen für sich einnehmen.

Ähnlich monumental gestaltet sich die kürzlich im Kölner Taschen Verlag erschienene Neuauflage seiner 2021 veröffentlichten Monographie Julian Schnabel. Eine 572 Seiten starke und fast vier Kilogramm schwere Werkschau, die in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler himself sowie seiner Partnerin, der schwedischen Innenarchitektin, Kunstexpertin und Künstlerin Louise Kugelberg entstand und die das komplexe Schaffen des 72-Jährigen in nie zuvor gesehener Breite veranschaulicht.

Julian Schnabel
„Untitled (The Sky of Illimittableness)“, 2015, Inkjet Druck und Öl auf Polyester © Julian Schnabel

Die Londoner Tate Modern, das Centre Georges Pompidou in Paris, das Amsterdamer Stedelijk Museum oder das Whitney Museum Of American Art in seiner Heimatstadt New York City – sie alle (und noch viele renommierte internationale Häuser mehr) hat Julian Schnabel während seiner fast hysterisch befeierten Soloausstellungen in seine ganz persönlichen Erlebniswelten verwandelt.

Julian Schnabel
„Large Girl with No Eyes“, 2001 Öl und Wachs auf Leinwand © Julian Schnabel
Julian Schnabel
Ausstellungsimpression „Julian Schnabel: Symbols of Actual“, Legion of Honor Museum, San Francisco 2018 mit dem Bild „Untitled“, 2016 © Julian Schnabel

Schon seit seinen Anfängen im Jahr 1974 definiert Julian Schnabel sich und seine Kunst auf der Suche nach dem ultimativen Ausdruck immer wieder neu, probiert sich in alle erdenklichen Richtungen und auf allen Materialien aus, denen er habhaft werden kann. Leinwand, Stoffe, Planen, Porzellan, Bronze, Wachs oder Holz bis hin zu Eisenketten oder Tiergeweihen, die er in seine bisweilen dreidimensionalen Gemälde einarbeitet.

Seine Kunst stellt viel mehr als nur die Projektionsfläche von Ego oder Vision, sondern eigene „Arenen“ dar, wie Schnabel selbst seine Werke bezeichnet, in der er Emotion, Intention und Effekt gegeneinander antreten lässt – mit völlig offenem Ausgang, wie er schon früh mit seinen Ende der 1970er-Jahre entstandenen Plate Paintings, den fragmenthaften Tellerscherbenbildern, demonstrierte.

Julian Schnabel Künstler
„The Patients and the Doctors“, 1978 Öl, Teller und Grundierung auf Holz © Julian Schnabel

Die makellose Form wird zerstört, dekonstruiert und in scheinbarem Chaos neu zusammengefügt. Eine vollständige Auflösung der Harmonien, die sich auch in den Velvet Paintings fortsetzt: Mal figurenhaften, mal abstrakten Samtgemälden wie dem 1980 entstandenen Großformat „Ornamental Despair (Painting For Ian Curtis)“, das Schnabel dem im selben Jahr durch Suizid verstorbenen Sänger der britischen Post-Punkband Joy Division gewidmet hat.

„Meine Vorstellung von moderner Kunst war einfach etwas, das ich benutzen konnte. Das kann auch eine geometrische Form auf einem flachen Rechteck sein, die an die Stelle einer Figur tritt. Alles kann Vorlage für ein Gemälde sein – eine Pappel, ein anderes Gemälde, ein Schmutzfleck“, so Julian Schnabel weiter.

„Ahab“, 2001 Bronze mit Patina © Julian Schnabel
„Ahab“, 2001 Bronze mit Patina © Julian Schnabel

Eine vom Freiheitsversprechen des Rock’n’Roll inspirierte Philosophie, von der er in jungen Jahren in einschlägigen Nightclubs wie dem New Yorker Ocean Club (in dem Schnabel seinerzeit als Koch arbeitete) oder Max’s Kansas City in der berühmten Park Avenue geprägt wurde, beides Hotspots für Visionäre und Rebellen aus Kunst und Kultur, darunter Andy Warhol, The Velvet Underground, David Bowie, Iggy Pop, Willem De Kooning, Robert Smithson oder Richard Serra.

Julian Schnabel vor dem Gemälde „Portrait of Louise as St. Lucia“, 2020, Foto Tom Powell
Julian Schnabel vor dem Gemälde „Portrait of Louise as St. Lucia“, 2020, Foto Tom Powell © Julian Schnabel

Julian Schnabel begnügt sich nicht mit einer oberflächlichen Betrachtung, sondern baut in jedes seiner Werke oftmals schwer zu erklimmende Metaebenen ein; vergleichbar mit den verschiedenen Floors seines New Yorker Refugiums, dem vom Künstler höchstpersönlich entworfenen und an einen venezianischen Palast erinnernden Palazzo Chupi in Greenwich Village.

Einem „Museum der Geheimnisse“, wie es im Begleittext über das knallpinke, Anfang der Jahrhundertwende erbaute Gebäude heißt. Anfänglich genutzt als Pferdestallungen und später als Parfumfabrik, beherbergt die von einem amerikanischen Architekturexperten liebevoll als „explodiertes Barbie-Strandhaus“ beschriebene Ideenschmiede heute zusätzlich zu Schnabels mehrstöckigem Atelier auch seine Privaträume und eine Kunstgalerie.

Self Portrait Julian Schnabel
„Untitled (Self-Portrait with Big Girl, Montauk)“, 2004 Polaroid © Julian Schnabel

Neben seiner Malerei wirft die Monographie auch einen Blick auf Julian Schnabels preisgekröntes Schaffen als Regisseur und Filmemacher, der seine Liebe zum Storytelling seit Mitte der 1990er-Jahre auch auf die Kinoleinwand ausgedehnt hat.

Angefangen beim tragischen Biopic über seinen 1988 im Alter von nur 27 Jahren verstorbenen Künstlerkollegen Jean-Michel Basquiat, über eine Tourdokumentation über seinen engen Freund, Rockikone und The Velvet Underground-Frontmann Lou Reed bis hin zu Vincent Van Gogh, dem er 2018 mit dem gleichnamigen, Oscar-prämierten Autobiographie-Drama ein Denkmal gesetzt hat.

„Ich leide, wenn ich gerade nichts erschaffe. Und so verhielt es sich in meinen Augen auch mit Van Gogh. Ein Mann, der 75 Bilder in 80 Tagen fertigstellt, kann nicht depressiv oder selbstmordgefährdet sein. Doch vielleicht würde die Wahrheit einfach nicht zum Mythos des ‚wahnsinnigen Genies‘ passen“,

kommentierte Schnabel seinerzeit seine filmische Analyse, mit der er sich auch an seiner eigenen Vergänglichkeit abarbeitete.

„Number 1 (Van Gogh, Self-Portrait with Bandaged Ear, Willem)“, 2018 Öl, Teller und Grundierung auf Holz © Julian Schnabel
„Number 1 (Van Gogh, Self-Portrait with Bandaged Ear, Willem)“, 2018 Öl, Teller und Grundierung auf Holz © Julian Schnabel

In der gerade erschienenen, unlimitierten Fassung von „Julian Schnabel“ wird nun sein eigener Mythos in beeindruckender Larger-Than-Life-Gänze wiedergeben. Neben eigenen Werken runden zahlreiche Abbildungen des Künstlers bei der Arbeit, Ausstellungsimpressionen sowie erklärende Texte von Freund:innen und Expert:innen wie Laurie Anderson, Éric de Chassey, Bonnie Clearwater, Donatien Grau, Daniel Kehlmann oder Max Hollein die Monographie ab.

Buch Cover Julian Schnabel
„Julian Schnabel“ von Hans Werner Holzwarth und Louise Kugelberg

„Julian Schnabel“ von Hans Werner Holzwart und Louise Kugelberg, Hardcover, 25 x 33.4 cm, 3.69 kg, 572 Seiten

taschen.com

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